Wolfgang Köhler
08.06.1927–07.02.2017
Meine Zeit als Lehrer in Lüdersdorf
Wolfgang Köhler
Im östlichen Teil Deutschlands stand das Bildungswesen nach 1945 unter der politischen Führung der sowjetischen (russischen) Besatzungsmacht. Politisch vorbelastete Altlehrer (70%) wurden durch 40000 Neulehrer ersetzt. Obgleich diese Personen nur eine Kurzausbildung erhielten, bewährten sie sich in der Praxis durchaus und waren auf Dauer in der Schule tätig. Der Unterricht wurde nach dem Krieg am 01. 10. 1945 wieder aufgenommen.
In Lüdersdorf waren zwar Klassenraum und das Mobiliar vorhanden, aber Lehrbücher, Lernmittel, Schreibutensilien fehlten. 1945 wurden hier 125 Kinder von einem Lehrer unterrichtet, vor- und nachmittags, Kinder aus Lüdersdorf, Flüchtlingskinder und ältere, die zuvor lange keine Schule besucht hatten.
Vom 01. 09. 1946 bis 01. 09. 1950 war ich als 2. Lehrer (Neulehrer) an der Landschule in Lüdersdorf tätig. Diese 2. Lehrerstelle gab es erstmalig seit April 1946, bis dahin besuchten alle Schüler immer die einklassige Schule vom 1. bis 8. Schuljahr mit einem Lehrer.
Meine Ausbildung als Lehrer nach dem 2. Weltkrieg:
Januar bis August 1946 Lehrgang in Kl. Machnow (Pädagogik, Methodik, Psychologie, Deutsch, Mathematik, Geschichte…freiw. russisch). Hospitationen, 14tägiges Praktikum an einer Landschule.
1948 1. Lehrerprüfung in Lüdersdorf , monatl. Weiterbildung in Sperenberg
1950 2. Lehrerprüfung in Lüdersdorf
1950 bis 1954 Fernstudium an der Päd. Landeshochschule Brandenburg, Abschluss Fachlehrer für Biologie.
Mein Mentor während der ersten vier praktischen Jahre in Lüdersdorf war „zufällig“ mein eigener Vater (Anm. d. Red. Heinrich Köhler) mit seiner langjährigen Erfahrung in der Lüdersdorfer Landschule. Beste Bedingung für die eigene Weiterbildung. Da gab es schon am Frühstückstisch die ersten Empfehlungen, die Auswertungsgespräche wurden auch bei der Gartenarbeit oder bei der Bienenbetreuung fortgesetzt. Ein Idealzustand, wenn der Handwerksmeister seine Erfahrungen an den eigenen Sohn weitergibt! Als Neulehrer musste ich gleich den Geschichtsunterricht bis Kl. 8 übernehmen, die Anleitung dazu gab es in Mahlow, 28 Km per Fahrrad zu erreichen.
Ich war später noch an zwei Landschulen und in Trebbin tätig. Meinen Beruf als Lehrer habe ich mit Leidenschaft und Engagement gerne ausgeübt, bis ich nach 45 Dienstjahren „aus der Schule entlassen“ wurde.
Trebbin, im Februar 2015
Das Porträt:
Lebt die Lüdersdorfer Mundart noch
Aus "Der Lüdersdorfer", 6. Jahrgang, Oktober 2009, Nr. 3
von Wolfgang Köhler
In Lüdersdorf gab es eine Zeit, wo man fast ausschließlich in der Mundart sprach, also Plattdeutsch. Nur in der Kirche predigte der Pfarrer in hochdeutsch, der Lehrer unterrichtete in der Schule in hochdeutsch, aber wenn die Kinder nach Hause kamen, sprachen sie mit den Eltern und besonders mit den Großeltern wie üblich in platt.
Noch in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts war diese ländliche Mundart hier zu hören, wenn sich die älteren Frauen untereinander unterhielten oder oft auch, wenn der Großvater in Wut geriet und schimpfte mit „di nutznützijen Rotznääsen un di jans bröschen Kingere“. So hörte man in Lüdersdorf diesen alten Dialekt zu ihren Lebzeiten z.B. von Frau Marie Königsmann, geb. Ribbecke (gest. 1981), von Minna Dunkel, geb. Lehmann (gest. 1967), von Luise Lüdicke, geb. Richter (gest. 1961) und von Hedwig Lehmann, geb. Eppinger (gest. 1965) oder von Gustav Kaplick (gest. 1953). Es ist also nicht verwunderlich, dass 60- und 70-jährige Lüdersdorfer heute noch die Mundart ihrer Vorfahren im Ohr haben, die Redewendungen und speziellen Ausdrücke genau kennen und sie letztlich wie die Alten sprechen können.
Aber wie kam es, dass eine über Jahrhunderte im Volk lebendige Sprache heute nicht mehr zu hören ist? Viele Umstände und Einflüsse von außen kann man zur Erklärung heranziehen. Für unsere Region übten im 19. Jahrhundert und danach das aufstrebende Berlin als Großstadt und die neuen Verkehrsbedingungen – Eisenbahn und Straßenausbau einen vielseitigen Einfluss aus. Die industrielle Gründerzeit schuf neue Arbeitsstätten in Berlin, eine wachsende Bevölkerung belebte den Handel mit dem Umland. Mit ihrem Platt wollten die jungen Leute nicht als „Dörpscher“ auffallen, Zeitungen wie das Teltower Kreisblatt oder die Trebbiner Zeitung von Gustav Hagen erschienen natürlich in hochdeutsch.
Besonders nach dem 1. Weltkrieg fanden auch engere familiäre Beziehungen zwischen Lüdersdorf und Berlin statt. So heiratete z.B. Anna Lehmann (Haus Nr. 3) Emil Henkel (Nr. 15), mit dem sie in Berlin einen Abmelkstall und ein Lebensmittelgeschäft unterhielt, Ewald Zäper (Nr. 5) betrieb in Berlin ein Kohlegeschäft, zwei Töchter vom Zimmermeister Friedrich Spieth (Nr. 7) verheirateten sich in Berlin. Zu den Dorffesten, beim Pfingstreiten oder zum Schützenfest kamen die Berliner zahlreich zu ihren Verwandten ins Dorf zurück. Sie brachten auch gleich ihre Berlinische Sprache mit, und so kam es zur Vermischung mit dem Lüdersdorfer Platt. Allmählich überwog mit den Jahren schließlich das Hochdeutsche! Und doch verbindet mich persönlich das Telsche Platt mit den heimatlichen Bräuchen, Sitten und Festen, mit dem Volksglauben und vor allem mit den zwischenmenschlichen Beziehungen.
Wie ist es nun, lebt die alte Mundart noch in Lüdersdorf?
Ganz leise höre ich: Ja sie lebt noch, lebt noch, lebt noch …
Und ich stimme unserem Heimatfreund Dr. Lademann zu, der vor 75 Jahren im Teltower Kreiskalender schrieb: „ Lange wird es nicht mehr dauern, dann wird man unser Platt als lebendige Sprache nicht mehr zu hören bekommen.“
Mundart
Ünger Dribbije (Traufe) mutt mann dät Hemde inbuddeln, dät der Kranke uttreckt, dänn werter jesunt!
Bei Diphterie: Doa mut man met Heringsloake oder met Pisse jorjeln, man tunkt ok wat Scharpet in un pinselt den Hals ut.
Bei Warzen: Man mut die Wratte stillschwins metne Speckschwoade vöt Füerloch besprääkn un dän die Schwoade int Füerloch schmitn, ok metn Heringskopp jestrikt un dänn ünger die Dribbinge injebuddelt.
Hochdeutsch
Man muss das Hemd, das der Kranke auszieht, unter der Traufe einbuddeln, dann wird er gesund!
Bei Diphterie muss man mit Heringslake oder mit Urin gurgeln, man tunkt auch in etwas Scharfes ein und pinselt damit den Hals aus.
Die Warze muss man stillschweigend mit einer Speckschwarte vor dem Feuerloch (am Herd) besprechen und die Schwarte dann ins Feuerloch schmeißen, die Warze auch mit einem Heringskopf bestücken und ihn dann unter der Traufe einbuddeln.
Vater Heinrich Köhler im Kreise seiner Familie (1944)
Festakt zur 650. Jahrfeier von Lüdersdorf 2007 mit Dr. Gerhard Birk, Lothar Baumann, Wolfgang Köhler (v.l.n.r.)
Festlicher Umzug im Rahmen eines Sportfestes im Jahr 1970 mit den Schülern, rechts Wolfgang Köhler
Wolfgang Köhler (l.) beim Vortrag "Rückblicke" in Lüdersdorf mit Horst Schulze (2001)
Zeitzeugeninterview 2013 bei Jörg Roschlau (l.)
Lüdersdorf, ich habe Dich nie vergessen!
Aus "Der Lüdersdorfer", 14. Jahrgang, Mai 2017, Nr. 2
von Jörg Roschlau
Seine Gedanken sind oft in Lüdersdorf, wie mir Wolfgang Köhler in einem Gespräch im Jahre 2013 gestand. Die 25 Jahre, die er in unserem Ort lebte, diese Zeit kann man nicht einfach auslöschen. Als seine schönsten Jahre hat er die Schulzeit von 1933 bis 1939 in Erinnerung. Die Zeit war für ihn irgendwie stehen geblieben.
Wie fing alles an? Natürlich in Lüdersdorf.
Seine Eltern, aus Sangerhausen kommend, lebten seit 1921 hier im Ort. Sein Vater unterrichtete in der Dorfschule. Am 08.06.1927 an einem Pfingstsonntag war es soweit. Seine Mutter war hochschwanger. Wie sollte sie ins Krankenhaus kommen?
Da konnte nur Alfred Lehmann, einer der Wenigen, die zu dieser Zeit ein Auto hatten, helfen. So erblickte an diesem Tag in Berlin Wolfgang Köhler als ein neuer Lüdersdorfer Erdenbürger das Licht der Welt. Er wuchs mit einer jüngeren und einer älteren Schwester geborgen und wohl behütet in der Familie Köhler auf. Im Vergleich zu seinem gleichaltrigen Spielkameraden im Ort hatte Wolfgang mehr Zeit für sich, da es nur einen Garten und später eine eigene Bienenzucht zu betreuen gab.
Die anderen Kinder mussten auf den bäuerlichen Höfen der Eltern mithelfen. Die Freizeit nutzten sie dann gemeinsam. Ein typisches Lüdersdorfer Kinderspiel mit der Bezeichnung „Bomber“ blieb in seinen Erinnerungen haften. Es wurden 2 Mannschaften (Mädchen und Jungen) gebildet. Eine Mannschaft musste sich im Dorf verstecken. Ein Kind streckte in dieser Zeit sichtbar für die andere Mannschaft die Hand raus. War die Hand nicht mehr zu sehen, konnte die Suche beginnen. Wurde einer der Versteckenden entdeckt, schallte der Ruf “Bombe, rom, bom, bom“.
Die friedlichen Jahre vergingen im Flug. Es breiteten sich überall nationalsozialistische Ideen aus, von denen Wolfgang nicht verschont blieb. Er beteiligte sich an den Aktivitäten im Jungvolk und der Hitlerjugend. Dann brach 1939 der 2. Weltkrieg aus. Das hieß für ihn, mit 16 Jahren als Flugwaffenhelfer in Berlin-Westend Dienst zu leisten. Als 17-jähriger erlebte er die letzten Kampfhandlungen bei Prag und geriet in russische Gefangenschaft. Auf Grund einer Krankheit kam er nicht nach Sibirien. Er durfte nach Hause.
Da sein Vater ihn als Schüler unterrichtete, wollte er nie den Beruf eines Lehrers ergreifen. Aber es sollte anders kommen. Durch Briefe seines Vaters und eigene Überlegungen entschied er sich doch für diese Tätigkeit. Überall wurden dringend Lehrer gebraucht Das hatte zur Folge, dass Wolfgang Köhler lernte und in den Jahren 1948 und 1950 zwei Lehrerprüfungen in Lüdersdorf absolvierte. Es folgte später ein 4-jähriges Fernstudium für Biologie in der Landeshochschule in Potsdam. Sein Lehrereinsatz war in unserem Dorf nur kurzeitig. Es folgten notwendige Versetzungen nach Schöneweide bei Luckenwalde (1950), nach Schünow (1950-1951) und zum Schluss war er Lehrer in Wiesenhagen (25 Jahre lang). Während seiner Lehrertätigkeit in Wiesenhagen lernte er seine spätere Frau Gerda kennen.
Die Hochzeit fand 1955 statt. Ihr Eheglück vervielfachte sich durch die Geburt ihrer Kinder, zwei Töchter und einen Sohn. Seine Familie, der Lehrerberuf und sein Hobby als Bienenzüchter waren der Mittelpunkt eines erfüllten Lebens. Daneben nahm sich die Familie aber auch Zeit für gesellige und lustige Aktivitäten, speziell an Wochenenden und Feiertagen.
Auch nach ausgiebigen Feierlichkeiten galt seine Devise “Pünktlichkeit ist das halbe Leben“.
Wolfgang Köhlers Schuldienst in Wiesenhagen endete 1971. Grund war, dass die dortige Schule geschlossen wurde. Bevor er mit 63 Jahren die Vorruhestandsregelung genießen konnte, war seine letzte Wirkungsstätte die Schule in Trebbin. Neben seiner Lehrertätigkeit übte er die Funktion eines Kreisfachberaters aus.
Die letzten Arbeitsjahre in Trebbin brachten für die Familie W. Köhler eine wohnliche Veränderung mit sich. Es wurde dort ein kleines Häuschen gebaut.
Zu erwähnen wäre noch sein Fleiß und seine Ausdauer bei der Erforschung und Aufarbeitung des Teltower Platt in unserer Region. Er hat sich auf diesem Gebiet sehr verdient gemacht.
In dem zum Anfang erwähnten Gespräch gefragt, was er sich für die Zukunft von Lüdersdorf wünsche, sagte Wolfgang Köhler zu mir: “Das Dorf hat sich durch seine Verbindlichkeit und den Zusammenhalt ausgezeichnet. Diese Tugenden sollten die Lüdersdorfer wieder stärker zeigen“.
Ein anderer Wunsch von ihm war, dass die „Neubürger“ sich voll integriert und angenommen fühlen.
Ro.